Immer wenn ich auf Reisen bin, suche ich Tempel auf, die an meinem Weg liegen - sei es eine Kirche, eine Synagoge oder ein islamischer Tempel, also eine Moschee. Für mich sind alle Tempel Zufluchtsorte für diejenigen, die Frieden und Ruhe suchen. Wenn ich gerade in der Türkei bin, besuche ich Moscheen und nutze dies als eine Chance, in ihrer sanften und beruhigenden Atmosphäre in mich hineinzuhören. In anderen Ländern sind Kirchen und Synagogen die Alternative zur Moschee. Warum nicht? Ich bin ein Moslem und wir Muslime glauben, daß das Gebet in jedem Tempel verrichtet werden kann. Diejenigen, die die Schwierigkeiten der Türken in diesem Land kennen, erinnern sich vielleicht noch, daß vor etlichen Jahren, als es noch keine islamischen Tempel in Deutschland gab, türkische Arbeiter um die Erlaubnis baten und sie auch erhielten, ihren Gottesdienst aus Anlaß des Bayram-Festes in einer Kirche in München feiern zu dürfen. Dies erscheint all denen natürlich, die Religion unterscheiden können von extremem Konservatismus und Aberglauben. Nun, dies ist jetzt nicht unser Thema, sondern Jesus Christus. 

Als meine Frau und ich vor einigen Jahren auf einer Reise in Finnland waren, betraten wir auch eine lutherische Kirche, um etwas nach innen zu hören. Wahrend ich das Jesus-Bild über dem Altar betrachtete, fiel mir sofort auf, daß Jesus Christus den blonden Finnen, die ich draußen gesehen hatte, sehr ähnlich sah. In jenem Moment erinnerte ich mich an eine Kurzgeschichte von John Clark, einem farbigen Schriftsteller. In jener Geschichte, die in einer Grundschule für farbige Kinder spielt, gab einer der Jungen der Lehrerin zu ihrem Geburtstag ein selbstgemaltes Bild, auf dem Jesus Christus ebenso dunkelhäutig war wie die Lehrerin und die Schüler. Für die Lehrerin kam dieses Geschenk unerwartet, und sie war verwirrt darüber, aber sie lobte den kleinen Jungen, um ihm eine Freude zu machen und bat ihn, der Klasse zu erzählen, wie und warum er das Bild so gemalt habe. Der Junge sagte: »Mein Onkel, der in New York wohnt, ist Lehrer für Geschichte der schwarzen Volker. Als er uns letztes Jahr besuchte, erzählte er uns von großen Schwarzen, die Geschichte gemacht haben. Er erzählte uns auch, daß früher einmal die Schwarzen die am weitesten entwickelte Rasse auf der Erde waren und daß niemand jemals hatte beweisen können, daß Jesus Christus nicht ebenso farbig war wie wir. Deshalb habe ich das Bild so gemalt, wie es in mir war, ich meine, wie ich es fühlte ...«

In jener Geschichte von John Henrik Clark ist der Geburtstag der Lehrerin gleichzeitig der letzte Tag des Schuljahres, an dem Bilder von Schülern in der Aula ausgestellt werden. Wie jedes Jahr zu diesem Anlaß besucht ein weißer Schulinspektor die Schule. Er wird in die Halle geführt, in der die Schüler-Bilder ausgestellt werden. Als er das Bild mit dem farbigen Christus bemerkt, wird er sehr ärgerlich und fordert von dem Direktor eine Erklärung für den »Skandal«, wie er es nennt. Der Direktor beweist bei seiner Antwort viel Zivilcourage. »Ich habe den Schüler zu diesem Bild ermutigt. Ich sehe darin keinen Fehler. Für Künstler anderer Rassen sieht Gott wie einer der Ihren aus. Sie verstehen sicher, daß farbige Maler dasselbe Recht genießen. Vielleicht war Jesus ja wirklich ein Farbiger; denn wir wissen, daß das Land, in dem er damals lebte, bewohnt war von Schwarzen.« Nach dieser Erklärung verliert der Direktor in dieser Geschichte noch an demselben Tag seinen Posten; er wird gefeuert.

Von einem engen englischen Freund, Mr. Alan Spencer Hindle, bekam ich als sehr persönliches Geschenk eine Ikone, die er aus ƒthiopien mitgebracht hatte. Er war Katholik, inzwischen ist er verstorben. Dieses charmante Geschenk habe ich immer ganz besonders geschätzt und respektiert. Als ich die Ikone zum erstenmal öffnete, war ich so verwirrt wie die Lehrerin in der Geschichte, allerdings nur für ein paar Minuten; denn hier wird Jesus dunkelhäutig dargestellt, und das hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Was der farbige Direktor in der Geschichte sagte, ist für mich in der Tat einleuchtend und sehr menschlich. Der antike griechische Philosoph Xenophon sagte: »Ein ƒthiopier stellt sich Jesus so dunkelhäutig vor, wie er selber ist, während ein Thrakier ihn mit blauen Augen sieht. Wenn Ochsen und Pferde die Fähigkeit der Vorstellung hätten, würden sie sich ihn in ihrer Gestalt vorstellen.«

Ich bin zwar niemals im Fernen Osten gewesen, doch ich nehme an, daß japanische und chinesische Christen vor einem Jesus mit Schlitzaugen knien. Ich fürchte, der weiße Schulinspektor in der Geschichte ist keine unrealistische, ausgedachte Person. In der sogenannten »Großen Demokratie« dieser Welt, Amerika, gab es viele seiner Art. Und ich frage mich, ob der zivilisierte Westen, der so vehement von der Gleichheit der Menschen und den Menschenrechten redet, jemals einen farbigen Jesus Christus hinter dem Altar ertragen würde, und sei es auch nur für zwei Tage ...

übersetzt von Gerhild Yalç1n