Der alte Seemann

Irgendwann in den letzten Jahren kam ich einige Male nach Lanzarote. Dort traf ich Acenzio, einen keltischen Druiden, der mit fünfunddreißig Hühnern, sieben Ziegen und einem Faß vom besten lanzaroter Wein aus der Vulkanasche in einem halb verfallenen Haus an der Küste lebte. Ich begegnete ihm erstmals zusammen mit Iwan, einem Schiffskoch aus Werdohl, der gerade für ein paar Monate auf den kanarischen Inseln abgeheuert hatte und mit seinem riesigen Koffer an der Straße stand. Iwan wußte nicht so genau, wohin er eigentlich trampen wollte, er hatte von einem anderen Matrosen nur eine ungenaue Adresse mit der Aussicht auf einen Job im Süden der Insel. Da ich dieses Gebiet selber noch nicht kannte, erbot ich mich, mit meinem geliehenen Jeep diesen Platz zu suchen. Es kannte zwar niemand die Adresse, aber auf der Suche lernten wir Hilario und seinen Bruder Acenzio kennen.

Hilario betrieb damals mitten in Playa Blanca eine kleine, halb verfallene Bar, die er sich beharrlich weigerte, an das Stromnetz anschließen zu lassen. Die Landschaft und die wunderbaren Strände vom Papagayo ließen es zur Gewohnheit werden, zusammen mit Iwan täglich morgens zuerst einen Besuch bei Hilario im Dorf später bei Acenzio auf der Steilküste zu machen. Hilario gab uns dann immer Lebensmittel für seinen Bruder und einen Sack altes Brot aus seiner Bar vom vergangenen Tag für die Hühner und Ziegen mit, obwohl die beiden gerade so tief zerstritten waren, daß keiner ein Wort mit dem anderen wechseln wollte. Einige Jahre später erst erzählte mir mein Freund Lu auf Lanzarote, daß diesen beiden Brüdern damals vermutlich das ganze südliche Drittel der Insel gehört habe. Da ich nicht spanisch sprechen konnte, war die Gesellschaft von Iwan bei diesen Besuchen sehr hilfreich, da er neben sechs anderen fließenden Sprachen auch Spanisch anzubieten hatte. So hatte ich die Möglichkeit, bei einigen Gläsern vom besten Wein ganz angenehme, mehr oder weniger belanglose Gespräche mit diesem alten kanarischen Seemann zu führen und seine Freundschaft zu gewinnen. Zum Abschied gab er uns regelmäßig einen eigenartigen Satz mit auf den Weg, dessen Sinn wir nicht sofort erkannten. Wir konnten uns aber bald nicht mehr von der Vorstellung lösen, daß es sich dabei jeweils um ganz konkrete Prophezeiungen handeln sollte, die sich auch später am Tage zu erfüllen pflegten. Nachdem er uns schon zweimal vor Problemen mit unserem Auto auf dem langen einsamen Weg gewarnt hatte, die sich später auch einstellten, (einmal hatten wir zwei Plattfüße und kein Ersatzrad, ein anderes Mal verloren wir unseren Auspuff) sprachen wir eines Tages ganz allgemein über Frauen und Acenzio stimmte ein Loblied über die Spanierinnen an. Vor allen Dingen in sexueller Hinsicht seien sie unübertrefflich. Als ich einzuwenden wagte, daß ein solches Urteil doch immer sehr subjektiv sein müsse, und daß es immer auf die beiden Menschen ankomme, die sich sexuell einließen, fragte er mich, ob ich überhaupt schon einmal Gelegenheit gehabt hätte, mit einer Spanierin zu schlafen, ich wüßte ja sonst nicht, wovon ich redete. Als ich verneinen mußte, sagte er zu mir mit einem sonderbaren, sich in der Ferne verlierenden Blick: "Das wird sich ändern. Noch heute wird dir eine Frau begegnen, und dann wirst du verstehen, was ich meine."

Als wir an diesem Nachmittag Acenzios Haus mit den wunderlichen Zeichen und Pictogrammen, den Kräuterbündeln und Knochenketten an den Wänden verließen und uns auf den vertrauten Heimweg machten, verfuhren wir uns auf unerwartete Weise und verirrten uns in eine Steinwüste, in der wir noch nie gewesen waren. Mitten in einem weiten Tal trafen wir dort Feli, auf Badesandalen in weißen Shorts mit einer großen Badetasche über der Schulter. Der Strand war ungefähr 10 km weiter südlich und der nächste Ort war mindestens ebenso weit entfernt. Feli, eine lesbische Rechtsanwältin aus Bastia hatte sich auf einer Kreuzfahrt zwischen den kanarischen Inseln befunden und ihr Schiff hatte an diesem Morgen für zwei Tage in Arecife festgemacht. Da es ein warmer Tag war, hatte sie sich einen Wagen gemietet und einen Bekannten vom Schiff gebeten, mit ihr in den Süden der Insel zu fahren, da sie selbst keinen Führerschein hatte. Sie fanden einen einsamen Platz am Meer in der Nähe von Acenzios Haus und als sie gegen elf Uhr Durst und Hunger bekamen, erbot sich ihr Begleiter, mit dem Auto loszufahren und etwas zu besorgen. Nachdem sie bis drei Uhr nachmittags weder etwas von ihrem Begleiter, ganz zu schweigen von ihrem Geld in ihrem Auto, gesehen oder gehört hatte, machte sie sich dann um vier Uhr zu Fuß auf in Richtung Norden und versuchte, eine Abkürzung abseits der Straßezu finden, was sie mitten in diese Steinwüste führte, in der wir sie gegen sechs Uhr abends mit unseren Jeep auflasen.

Um ihre Rückkehr in die Zivilisation gebührend zu feiern und Hunger und Durst von 11 Uhr zu stillen, schloß sich ein überschwengliches Koch-, Freß-, und Saufgelage in meinem Apartment an, in dem inzwischen auch Iwan wohnte. Er gestand ihr, schwul zu sein, was sie veranlaßte, sich als Lesbierin zu outen. Der Abend war dann lange Zeit mit vergleichenden Betrachtungen der Probleme homosexueller Männer oder Frauen ausgefüllt. Über mehrere Stunden entspann sich ein angeregter, überwiegend in spanisch geführter, Erfahrungsaustausch zwischen den Beiden, während mir begrenztem, sprachunkundigem Hetero nur der Wein und der Gesang aus Nachbars Garten blieb, bis Feli sich plötzlich zu mir herüberneigte, zärtlich an meinem Ohrläppchen zu knabbern begann und mir flüsternd eröffnete, sie sei zwar noch Jungfrau, wundere sich aber, wie mir habe entgehen können, wie sehr sie schon seit Stunden heftig ihrem ersten heterosexuellen Kontakt mit mir entgegenfiebere, und frage sich, wann wir endlich damit beginnen würden. So hatte dieser Tag für Feli nicht nur anstrengende Abenteuer in der steinigen und in der menschlichen Wüste bereitgehalten, sondern auch noch das liebevolle Ende ihres bisherigen Lebens. Die Wiedergeburt vollzog sich im ersten Licht des folgenden Tages unter den glühenden Augen eines riesigen schwarzen Katers, der sich irgendwann am offenen Fenster niedergelassen hatte, offenbar um aufmerksam zu verfolgen, ob wir auch alles richtig machten. Ich war nicht sicher, ob Acenzio diesen Kater geschickt hatte, oder ob er es selber war, jedenfalls waren es seine Augen, und als wir ihn wieder besuchten, begrüßte er mich, mit einem Seitenblick auf Feli und der Frage, ob er zuviel versprochen habe.

Auf der Fahrt dorthin entstand mitten in den Lavafeldern auf Felis Anregung ein Erinnerungsfoto, auf dem wir alle drei ganz ohne Kleider in der urzeitlichen Landschaft zu sehen sein sollten. Leider wurde dieses Foto ein wenig überbelichtet, da meine Kamera keinen Selbstauslöser hatte und wir einen vorbeifahrenden Touristen bitten mußten uns aufzunehmen, wobei ihm wohl vor Aufregung ein kleiner Fehler passiert sein muß. Ich hatte übrigens schon so etwas erwartet, weil er ganz rote Ohren bekam, während seine Frau aus dem hinter einer Erhebung geparkten Auto mehrere male laut und vernehmlich rief: ÒKarl-Theodor, wo bleibst du nur?Ò Mehr als ein Jahr nachdem ich die Insel verlassen hatte, hörte ich noch einmal von Iwan und Feli. Spät abends kam eine Anruf aus der Wohnung von Iwans neuem Freund in Verona. Als ich ihn nach dem Urlaub verlassen hatte, mußte er ja auch aus dem Apartment. Es war ihm danach nicht sehr gut gegangen, bis er sich seiner homosexuellen Begabung entsann und einen Lover aufriß. Daraus wurde die große Liebe zu einem höheren vatikanischen Würdenträger, den er in seine Heimat in Italien begleitet hatte. Iwan rief an diesem Abend an, weil er sich von mir für längere Zeit verabschieden wollte. Er fuhr am nächsten Tag mit seinem Freund an den südlichsten Zipfel Indiens um an einem über mehrere Jahre angelegten Entwicklungshilfeprojekt in einem Kloster mitzuarbeiten.

Auf der Rückreise von Spanien hatte Monsignore zufällig etwas in Bastia zu erledigen und Iwan wollte in der Wartezeit Feli besuchen. Erst fand er das Haus, in dem sie ihre Kanzlei hatte, sie war aber nicht anwesend. Bei ihrem Wohnhaus wurde ihm nach kurzer Zeit erklärt, die Frau Notarin sei mit ihrem Mann verreist. Da er nichts Besseres zu tun hatte, war erst einmal ein Kaffee in einem Restaurant an der Ecke angesagt. Iwan staunte nicht schlecht, als er plötzlich die Notarin Feli mit einem Kinderwagen schön und glücklich im "Babyspeck" auf die Straße treten sah. Sein Staunen geriet zur größten Verwunderung als sie offenbar nicht im Geringsten dazu bereit oder auch in der Lage war, sich an Iwan zu erinnern, obwohl es noch kein ganzes Jahr her war, seit wir sie gemeinsam zu einem Tränenreichen Abschied an ihr Schiff gebracht hatten. Nach diesem Anruf von Iwan war mir allerdings klar, weshalb ich keine Antwort auf meinen Briefe bekommen hatte, in dem ich ihr das Foto von uns Dreien in der Lavawüste geschickt hatte....

Dezember 1983